Eichhörnchen-Blog

Zeitkritische Texte aus christlicher Perspektive

Der Hulk ist krank.

Es betrifft nicht nur die Politik. Diese Krankheit geht ganz tief hinein in unseren Alltag. Als die Buchhändlerin sagte: „Solche Bücher mit guter Sprache und kurzen Fantasiegeschichten für Erwachsene führen wir schon länger nicht mehr. Früher hatten wir da ein Regal für…“, wurde mir klar: Da fehlt wirklich etwas. Im Endeffekt hat sie mir aus der aktuell erschienen Literatur doch ein gutes Buch heraus empfohlen. Es ist nicht so, als ob es das gar nicht mehr gäbe.
Um uns herum gibt es die Macher – oft Männer mit zahlreichen technischen Maschinen, handwerklichen Erfahrungen und Beziehungen zu anderen Machern. Man kennt sich. Menschen, die Bücher lesen oder mit dem Fuchsschwanz in der Hand einem morschen Ast zu Leibe rücken, werden nicht bloß belächelt. Was tun die eigentlich den ganzen Tag. Man hört ja nichts. Homo Faber ist zumindest in der hellen Tageszeit aktiv. Auch in der Politik: Wenn es mal dunkel wird oder kriselt im Leben, so ist das Heilmittel Aktivität, Aktivismus. Wenn du am Abend sehen kannst, was du gemacht hast, dann bist du glücklich. Problemlösungsversuche hatten wir in den letzten Jahrzehnten genug. Was es jetzt braucht, sind Umsetzer, Macher eben.
Daneben gibt es – nicht selten als Ehepartner des Homo Faber – die Prinzipienmenschen. Sie schauen weiter – zuerst auf den Anderen an sich, dann auch in die Zukunft. Manchmal werden sie von den technischen Pragmatikern auch die „Gutmenschen“ genannt, weil sie eine „gute“ Überzeugung haben. Von ihnen stammen all die „guten“ Gesetze. Oft gelingt es ihnen im Kleinen nicht, ihrem eigentlichen Leben eine hinreichende Ordnung zu geben. Sie finden das oft auch nicht schlimm. Was zählt, sind Wille und Geist. Zumindest der „gute Wille“.
Doch wer schon einmal mit einem Kompass in unbekanntem, unwegsamem Gelände unterwegs war, der weiß, dass man weder mit fertigen Rezepten noch mit einer unbedingten Richtung gut beraten ist. Orientierung bedeutet, dass man weiß, wo Süden ist (am Tag) oder Norden (in der Nacht). Dass man auch in der Lage ist, Umwege zu gehen oder einen gewissen Weg zurück, weil ein Taleinschnitt unpassierbar ist. Verständigung bedeutet dabei, dass jeder seine Erfahrungen und Orientierung mit einbringt, um dann unter verschiedenen Aspekten einen gangbaren Weg zu finden. Und dann sind da noch Menschen, die finden sich besser zurecht als andere. Mein Vater war lange Zeit so jemand. Das heißt nicht, dass er sich nicht auch mal verlaufen hat. Aber ich hätte nur sehr ungern auf einen jungen „Macher“ oder einen selbstgewissen erfahrenen „Man muss immer nur…“-Experten gehört, wenn mein Vater in der Gruppe gewesen wäre und eine fundierte Meinung gehabt hätte. Also eine gute Portion Vertrauen braucht es, und die gibt es wirklich nicht zu kaufen, noch nicht einmal im Buchhandel.
Der Hulk ist krank. Wir leben in einer technischen aufgerüsteten, muskulösen Gesellschaft mit viel wissenschaftlicher Expertise, aber wenig Hirn und Geist. Seit Religion obsolet geworden ist, klafft da ein großes Loch, in das Technokraten mit bildgebenden Verfahren und faschistoide Identitätsmacher hineinstoßen, aber keinerlei wirkliche Orientierung bieten. Soziologen und Psychologen können mit ihren analytischen Methoden merkwürdigerweise nur den Zerfall „unserer“ / „meiner“ Identität diagnostizieren. Historiker, Philosophen und Theologen sind zu teuren Kostgängern verkommen, die im Gegensatz zu Technik und (Natur-)Wissenschaft keine Schulbuchrabatte mehr bekommen. Und auch der verzweifelte Versuch der letzten Kanzlerin, Kirche und Religion als werterhaltendes Korsett der Gesellschaft zu re-etablieren, schlug fehl. Orientierung wie in der Nachkriegszeit ist eine teure Mangelware. Witze über Regierungen sind nicht mehr witzig, sondern nur noch böse. Vernünftige und geistvolle Menschen, die gemeinsam Probleme lösen und Zukunft gestalten, finden sich oft nur hinter dem übernächsten (Partei-)Zaun, weil der Stammtisch-Geist und das exklusive Wir-Gefühl längst in der eigenen Partei Einzug gehalten hat – wenn sie nicht der allgemeinen Polit-Hetze Tribut zollen und rechtzeitig resignieren.
Im Jahr 2100 werden Russland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Korea eine Nebenrolle spielen im Konzert der Großen wie Indien, Brasilien, Nigeria oder dem Kongo. China und USA werden daneben „alte“ konkurrierende Großmächte sein, die ihren Platz gegenüber Pakistan und Tansania behaupten müssen. Vor diesem – zugegebenermaßen ein wenig forschen, aber nicht undenkbaren – Zukunftsszenario bleibt zu fragen: Gibt es wirklich niemanden wie z.B.  Richard von Weizsäcker seinerzeit, der unserem kranken Hulk mit Fantasie und guter Sprache eine neue Erzählung von der Zukunft schreiben kann?                                   rf 10/24