Eichhörnchen-Blog

Zeitkritische Texte aus christlicher Perspektive

Allerheiligen

Wo war noch dieser kleine evangelische Buchladen, den ich während meines Studiums an der Ruhr-Universität mehrfach besuchte – in Bochum Süd oder schon in Witten? (Fast) jede Domstadt hatte ihren eigenen theologischen Buchladen, in dem nicht nur die Standardwerke wie Dogmatik, Kirchengeschichte, usw., zu bekommen waren, sondern vor allem die konkurrierenden theologischen Entwürfe. In der Christologie entstanden Bilder vom Historischen Jesus, vom Jesus, den man nur von seiner jüdischen Herkunft her verstehen konnte, von Jesus dem Neuen Mann, von Jesus dem Sozialrevolutionär, Jesus dem Befreier der Befreiungstheologie, u.v.a.m. Ich fragte einen Mitstudenten aus Übersee, warum er sich für Katholische Theologie eingeschrieben habe. Er bekannte freimütig, dass er Europa kennenlernen wolle, und dafür sei nichts besser geeignet als die deutsche Theologie.
Die theologischen Buchläden, einst Sinnbild für die Fruchtbarkeit der christlichen Ideen in unserer Gesellschaft, waren zwischenzeitlich fast komplett verschwunden. Hier und da gibt es wieder einen, wenn auch mit wenig Neuem aus dem binnenkirchlichen Raum, mehr Esoterik und Standardwerke. Heute fragt niemand mehr einen Deutschen, der in einem anderen Land Theologie studieren will, warum er das nicht in Deutschland mache. In Afrika, Asien und vor allem Lateinamerika sind zuerst Priesterseminare und mittlerweile auch theologische Fakultäten entstanden. Noch liegt der Schwerpunkt der theologischen Fakultäten und Verlage auf der Nordhalbkugel, doch mit zunehmender wirtschaftlicher Kraft und Bedeutung werden auch diese nach Süden ziehen bzw. von südlichen Verlagen abgelöst.
Selbst der Chef der Katholischen Kirche ist mittlerweile ein Südamerikaner. Weil er eine weiße Hautfarbe hat und Italienisch gelernt hat, denken „wir“, er seiner einer von „uns“, sind aber dann irritiert, dass er den Krieg Putins nicht verurteilt, sondern alle gleich zum Frieden ermahnt. Er agiert nach dem gleichen uneuropäischen Muster wie die BRICS-Staaten und steht dem Westen nicht unkritisch gegenüber.
Liebe AfDler, habt ihr euch das gut überlegt mit dem „christliche Lebenskultur verteidigen“? Hat die bei euch gefürchtete und verhasste Globalisierung nicht schon die christlichen Kirchen erfasst und Geistliche aus Indien und Schwarzafrika in die Gemeinden gespült, um den zahlenmäßigen Schwund der Geistlichkeit ein wenig zu kompensieren? Abgesehen davon, dass Jesus selbst ein Jude war…? Geschenkt. Man könnte sich ja wie auch in der gesamten Geistesgeschichte darauf einigen, die letzten 60 bis 120 Jahre als geistesgestört bzw. undeutsch zu ignorieren. Dann wäre doch eigentlich alles wieder in Ordnung, oder?! Denn damals gab es ja keine Notwendigkeit zu irgendeiner Veränderung. Jugendbewegung, Eucharistische Bewegung, Gleichberechtigung der Frau in der Katholischen Kirche, … - ups, das gab es damals schon auf der Agenda? Und wenn wir zurück ins 19. Jahrhundert gingen in die Zeit der fröhlichen Nationalstaaten mit ihren unbekümmerten Feindbildern und dem Hurra-Patriotismus? Ach, da ist sie ja, die Gute Alte Zeit mit „Stille Nacht, Heilige Nacht“, „Wir sind nur Gast auf Erden“, dem „Heilig“ von Schubert und den gefühlsduseligen Marienliedern wie „Segne du, Maria“. Da endlich passt sie wieder, die Rede vom Königtum Gottes und den Bildern aus den Psalmen: „Lege mir meine Feinde als Schemel unter die Füße“. Jawoll!
Ach nein, auch das noch: Der damalige Papst verurteilt nicht nur den Sozialismus und seine Idee der Kollektivierung der Produktionsmittel, sondern auch den Liberalismus mit seiner Idee des unregulierten Marktes. Und er begründet die Katholische Soziallehre, die mit ihren zentralen Ideen zum Gerüst des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland werden soll. Später (2003) wird der lateinamerikanische Papst auch noch Gemeinwohl und Nachhaltigkeit hinzufügen, was im deutschsprachigen Netz aktive Katholiken jedoch seitdem kleinreden. Jedenfalls passen die Grundprinzipien aus dem 19. Jahrhundert (Personalität, Solidarität, Subsidiarität) nicht in die gesellschaftliche „Ordnung“ der neuen „illiberalen Demokratien“, die sich zum Hüter der Christenheit aufschwingen wollen.
Die Missbrauchsskandale in den Kirchen waren nur ein Katalysator oder lokale Tornados eines viel größeren „Jet-Streams“ der Geistesgeschichte unserer Tage. Die Heiligen der heutigen Kirche werden vermehrt in südlichen Gefilden geboren. Ihre Gestaltungskraft für die kommende Weltordnung wird sich auch dort entfalten. Ein US-Amerikaner mexikanischer Provenienz, der uns besuchte, wunderte sich gar, dass es in Europa Katholiken gäbe. Das hatte er nicht erwartet. Aber er fand es nett.                                    rf 11/24